N°1 Cécile Haas
*23. Juli 1929 - Geschäftsfrau, Hausfrau und Mutter
Cécile lebt in Erlinsbach, auch „Speuz“ genannt. Erlinsbach teilt sich zwischen den Kantonen Aargau und Solothurn. Noch weit bis ins 20. Jahrhundert war das Verhältnis zwischen den beiden Teilen Erlinsbachs und den unterschiedlichen Konfessionen angespannt. Man spuckte sich über den Erzbach an. Daher der Übername.Mit dem Bus von Aarau erreiche ich das Alterszentrum Mühlefeld innert kurzer Zeit. Ich treffe Cécile im zweiten Stock. Sie wartet schon unter der geöffneten Tür auf mich. Sie lebt seit rund vier Jahren in einer Alterswohnung. Die Wohnung ist überschaubar, die Einrichtung eine Mischung aus antiken Möbeln und modernen Stücken. Nach dem Frühstück erzählt sie mir von ihrem Leben. Am Vormittag spazieren wir zur Dorfkirche und machen uns auf den Weg Richtung Zug. Hier verweilen wir am See, geniessen ein Stück Zuger Kirschtorte und besuchen Schauplätze ihrer Vergangenheit. Wieder zu Hause angekommen, backt Cécile eine frische Aprikosenwähe - die beste, wie ich finde. Cécile ist mein Grosi.
Die Natur ist etwas, dass mich sehr glücklich macht. Wenn im Frühling alles spriesst, die Blumen zu blühen beginnen und die ersten Sonnenstrahlen die Haut erwärmen, ist es etwas ganz Besonderes. Auch der Herbst hat seine schönen Seiten, wenn die Blätter gehen und alles wieder kahl wird. Wir waren viel in den Bergen, sind viel gewandert. Einmal waren wir auf dem Gornergrat in Zermatt. Es war ein wunderschöner Tag, an den ich heute noch gerne zurückdenke.
Meine Kindheit verbrachte ich auf einem grossen Bauernhof in Oberrüti. Ich bin die jüngste von sechs Kindern, alles Mädchen, ausser Josef. Auch die Gemeindeschule habe ich im Dorf gemacht. Wir waren sieben Schüler. Ab der 5. Klasse konnte man in die Bezirksschule, heute ist das anders. Mein Vater sagte immer, dass ich nicht in die Bezirksschule soll, sondern in die Gemeindeschule. Mein Lehrer meinte jedoch, dass ich sehr gute Noten habe und ich gut an die Bezirksschule gehen kann. Das machte ich dann ohne Prüfung. Drei Jahre hat die Bezirksschule gedauert. Ich musste jeden Tag mit dem Velo von Oberrüti nach Sins fahren. Da musste man schon mit 30 Minuten rechnen, vor allem im Winter mit dem Schnee. Mir gefiel die Bezirksschule, Josef und Berti, zwei meiner Geschwister, waren auch an der Bezirksschule. Ich hätte mir dann gewünscht, eine Lehre zu machen, vor allem der Verkauf hat mir sehr gut gefallen.
Ein prägendes Erlebnis in meiner Jugend war der Abend des 11. Dezember 1942. Zwischen Sins und Oberrüti gingen 300 Brandbomben runter. Sie wollten die Aluminiumfabrik der Lonza treffen, so die Vermutungen. Durch den Druck gingen unsere Fenster kaputt. Wäre der Wald nicht gewesen, wäre ich heute wohl nicht hier. Es kam niemand ums Leben, aber eine getroffene Scheune ging vollständig in Flammen auf. Auch der Wald war weitgehend zerstört. An die Zeit während des Krieges kann ich mich nicht mehr so gut erinnern. In der Schweiz war es zum Glück nicht so schlimm.
Nach der Schule habe ich ein Haushaltslehrjahr im Pfarrhaus Gisikon-Root gemacht. Da habe ich gelernt zu kochen, zu waschen, zu bügeln und musste viel im Garten arbeiten. Anschliessend wollte ich in die Westschweiz, um Französisch zu lernen. Mein Vater fand das gar nicht gut und meinte: „Die Anderen waren nicht, dann gehst du auch nicht!“. So habe ich dann selber eine Stelle gesucht. 1945 war ich in Courgenay in einer Metzgerei tätig, danach arbeitete ich für eineinhalb Jahre in La Chaux-de-Fonds in einer Bäckerei-Konditorei. Bis meine Mutter sagte, dass ich langsam wieder nach Hause kommen könnte. Bevor ich nach Zug zog, arbeitete ich noch in einer Bäckerei in Altdorf und im Service in einem Restaurant in Arth am See.
Als ich 1953 in Zug im Café Hug arbeitete, habe ich meinen Mann Ernst kennengelernt. Er kam ab und zu sein Znüni bei mir holen. Mit meiner Schwester Marie war ich einmal spazieren, da haben wir ihn angetroffen und er hat uns zum Kaffee eingeladen. Von da an kam er das Znüni jeden Vormittag bei mir holen. Am Abend sind wir manchmal an den See zusammen. Er war reformiert, aber er wusste schnell, dass er katholisch werden wollte. Er ging schon vorher in die katholische Kirche und er hatte einen guten Pfarrvikar, der ihn beraten hat. Sein Vater hätte wohl nicht viel dazu gesagt, aber mein Vater hätte einer Ehe nicht zugestimmt. Er war auch nicht sehr interessiert an ihm, er sagte einmal: „Mit dem musst du nicht mehr kommen!“,weil Ernst reformiert war, vielleicht auch weil er ihm sonst nicht gepasst hat. Wir gingen dann nicht mehr oft nach Hause. Meine Mutter sagte nicht viel. Für mich war aber klar, dass es zwischen mir und Ernst stimmt. Er zeigte grosses Interesse und hat sich sehr um mich bemüht.
Im Juni 1953 starb meine Schwester Käthi im Alter von 26 Jahren. Man wusste schon seit ihrer Kindheit, dass sie zuckerkrank war. Daraufhin erlitt meine Mutter eine Streifung und im Herbst desselben Jahres starb mein Vater. Unter den Geschwistern haben wir entschieden, dass Berti bei unserer Mutter bleibt. Im Frühling 1955 zog ich nach Oberrüti zurück. Nur wenige Tage nach meiner Rückkehr ging meine Mutter, wie jeden Morgen, in die Kirche. Danach haben wir noch zusammen gefrühstückt. Vor dem Haus hatte es einen grossen Platz mit Kies, der voll mit Gras und Unkraut war. Ich sagte zu ihr, dass ich jäten gehe, damit es wieder besser aussieht. Nach kurzer Zeit kam meine Mutter mit ihrem „Häueli“dazu und hat geholfen. Ein paar Minuten später fiel sie um, weit und breit war kein Mensch. Ich bin zur Strasse gerannt. Ein Mann kam und hat mir geholfen sie ins Bett zutragen. Ich ging zum Pfarrer, der gleich nebenan wohnte. Er kam gleich dazu. Der Doktor war mit ihrem Zustand nicht zufrieden. Er kam am nächsten Tag noch einmal. Er ging von einem Hirnschlag aus, sie war erst 65 Jahre alt. Am dritten Tag kam der Doktor noch einmal, aber es war aussichtslos. Meine Geschwister kamen noch vorbei. Das war sehr schwierig für mich.
Ernst war gelernter Tapezierer-Dekorateur, heute ist das ein Innendekorateur. Sein Vater war Sattler-Tapezierer und hatte ein Geschäft in Erlinsbach. Im gleichen Jahr als meine Mutter starb, ist Ernst von Zug zurück in sein Heimatdorf Erlinsbach zurück gezogen, um seinen Vater zu unterstützen. Im Herbst, am 3. September 1955, haben wir geheiratet. So zog ich zu Ernst nach Erlinsbach in ein Haus neben das Geschäft seines Vaters. Im Jahr darauf kam unsere erste Tochter Beatrice zur Welt, vier Jahre später Monika. 1963 haben wir ein neues Geschäft eröffnet. Zuerst hiess es „Wohnbedarf Haas“, später „Innendekoration Haas“. Wir verkauften Vorhänge, Polster, Möbel und Lederwaren wie z.B. Glockenriemen. 1966 bekam ich unsere dritte Tochter Ursula. Wir haben sehr viel gearbeitet, aber es hat mir so viel Freude gemacht. Ich musste immer die Treppen hoch und wieder runter, dann hat es wieder geklingelt, ich habe verkauft und Vorhänge genäht. Nebenbei habe ich noch den Haushalt und den Garten gemacht und drei Kinder grossgezogen. Ich war auch zuständig für den Ausstellungsraum und die Schaufenster. Ernst hatte jeweils einen Lehrling und später einen Arbeiter. Einmal im Jahr, jeweils im Sommer, haben wir Ferien gemacht. Wir sind gerne mit unseren drei Töchtern in die Saanenmöser im Berner Oberland und später ins Wallis. Dieser Ausgleich hat uns allen gut getan.
Das Geschäft haben wir 1970 von seinem Vater übernommen. Es war kein Wunsch, aber die Arbeit hat Ernst gefallen. Auch danach musste sein Vater immer noch seinen Senf dazugegeben. Wir waren ihm verpflichtet, da wir den Zins zurückzahlen mussten. Irgendwann hat Ernst entschieden, dass ich mich von nun an um die Finanzen kümmere. Das hat seinem Vater natürlich auch wieder nicht gepasst. Rechnungen schreiben, die Kasse abrechnen und die Buchhaltung führen, habe ich durch die vorherigen Stellen gelernt. Ernst hatte keine Zeit, um sich um das Finanzielle zu kümmern. Er hat bestellt und musste seine Stunden aufschreiben und seine Arbeit auflisten. Wir hatten manchmal Streit bezüglich des Geldes, vor allem mit seinem Vater. Sein Vater machte praktisch alle Arbeiten von Hand mit altem Werkzeug. Ernst wollte oder musste aber neue Werkzeuge und Maschinen anschaffen, um bessere und schnellere Arbeit zu leisten. Das hat seinem Vater nicht gefallen. Er hatte Angst, dass wir durch die Anschaffungen „verlumpen“. Ich war schon diejenige, die gespart und eingeteilt hat. Ernst hat mir vertraut oder wir haben es zusammen besprochen. Aber er war stur und wusste immer alles besser, hatte immer recht. Das hingegen war nicht einfach.
Mit 59 hatte Ernst seinen ersten Herzinfarkt, beim zweiten Herzinfarkt benötigte er drei Bypässe. Er hatte sich gut erholt. Zwei Jahre später bekam er Rückenprobleme. Der Spinalkanal war eingeklemmt, durch das schwere Tragen in der Vergangenheit. Zudem wurde eine Herzlähmung festgestellt. Mit den Jahren wurde er schwächer. Er konnte nicht mehr in die Werkstatt, nichts mehr im Garten machen. Das Leben machte für ihn keinen Sinn mehr, er litt stark unter diesen Umständen. Am 27. April 2012 starb Ernst im Alter von 83 Jahren bei uns zuhause. In dieser Woche ging es ihm besser als sonst. Ende Woche sagte er zu mir: „Wenn es so bleibt, ist es in Ordnung“. Am Nachmittag ging er hinter das Haus in den Liegestuhl. Ich habe ihm noch ein Jäckchen gebracht, falls es kälter würde und ging dann zum Coiffeur. Als ich zurück kam, lag er am Boden im Garten mit dem Jäckchen. Ich rief die Ambulanz und den Nachbar, aber es war zu spät. Es war ein Schock und ich konnte es gar nicht richtig realisieren.
Ein Jahr später meldete ich mich beim Verwalter der Alterswohnungen in Erlinsbach, um auf die Warteliste aufgenommen zu werden. Auch im Altersheim bin ich seit vielen Jahren auf der Liste, da die Plätze knapp sind. Kurze Zeit später wurde eine Wohnung frei. Es ging alles sehr schnell. Jedoch benötigte ich drei Wochen, um einen endgültigen Entscheid zu fällen. Ich weiss bis heute nicht, wie ich das alles gemacht habe. Am meisten weh gemacht hat mir, dass ich wusste, dass Ernst fast alles im Haus selber gemacht hatte. Ich habe mich immer wieder gefragt, was er dazu gesagt hätte. Heute denke ich, dass ich es richtig gemacht habe.
So ist der Lauf des Lebens. Man sagt, dass man nach vorne schauen muss, nicht zurück. Aber die Erinnerungen bleiben und ich denke oft daran zurück. Die Kraft von oben hat mir Halt und Sicherheit gegeben. Ich musste in meinem Leben viele Verluste hinnehmen. Als ich noch jung war, war ich durch die Arbeit abgelenkt, es fiel mir leichter. Wenn man älter wird, hat man mehr Zeit zum Nachdenken. Ich denke immer noch viel an Ernst und das Haus. Heute vermisse ich Ferien in den Bergen, das Wandern. Dafür erfreue ich mich über die Besuche und Telefonanrufe meiner Töchter und meinen vier Grosskinder. Monika sorgt dafür, dass ich immer schöne Blumen auf dem Balkon habe und Beatrice hat letzthin eine schöne Blueschtfahrt mit mir durchs Fricktal gemacht. Ich habe nicht direkt Angst vor dem was kommt, aber Respekt davor, dass etwas passiert oder es irgendwann nicht mehr geht. Ich kann nur hoffen, dass ich vorher einschlafe. Ich hatte trotz vielen Rückschlägen sehr viel Freude an meinem Leben. Ich habe viel gearbeitet, aber immer gerne.
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N°2 Irene Klöti
*25. November 1929 - Schauspielerin, Hausfrau und Mutter
Irene lebt in Meilen am Zürichsee. Mit der Bahn rund zwanzig Minuten von der Limmatstadt entfernt. Hoch oben finde ich das Alterszentrum Platten. Ich treffe Irene in ihrer Alterswohnung mit beneidenswertem Ausblick auf den See. Die Wohnung ist modern, grosszügig und besitzt einen kleinen Balkon. An diesem lauen Sommermorgen ist das unser Ort, um über ihr Leben zu sprechen. Später führt mich Irene hinter das Haus und zeigt mir ihren Ort der Ruhe und Stille – das Meilemer Tobel. Hier stellt sie mir die Kunst des einheimischen Bildhauers Hans Jakob Meyer vor. Beim Mittagessen im Alterszentrum lerne ich ihre „Clique“ kennen. Nach einer Erholungspause am Nachmittag zeigt sie mir Meilen. Zusammen reisen wir nach Winterthur, zum 152. Sommertheater. Eine Rückkehr zu einstigen Träumen und emotionalen Erinnerungen.
Ich habe so früh geheiratet und drei Kinder bekommen, dass ich nachher noch Zeit hatte, mich zu verwirklichen. Entweder packt man die Chance vorher und geht in die Welt hinaus, oder nachher. Wir hatten keine Wahl. Die Grenzen waren geschlossen während des Krieges. Wir waren drei Geschwister, ich das mittlere. Wir hatten Glück. Dank meinem jüngeren Bruder erhielten wir mehr Lebensmittelmarken für Milch und Butter. Als Kind hatte ich eine behütete Zeit. Von meinem Vater konnte ich alles haben. Ich habe ihn gerne um den Finger gewickelt.
An der Hohen Promenade in Zürich besuchte ich die Töchterschule. Kurz vor der Aufnahmeprüfung hatte ich eine Operation und konnte nicht daran teilnehmen. Daher musste ich die Prüfung an meinem ersten Schultag schreiben und habe gleich bestanden. Drei Jahre hat die Schule gedauert. Wenn ich noch ein Jahr angehängt hätte, wäre ich Lehrerin geworden. Das wollten meine Eltern, ich aber nicht. Ich habe die Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule gemacht und ebenfalls bestanden. So jung würde ich das niemandem mehr anraten. Ich habe fünf Semester im Bühnenstudio in Zürich studiert. Das Gebäude gibt es nicht mehr, seit das Kunsthaus erneuert wurde. Das erste Semester war Probezeit. Nach einem Jahr fand eine Zwischenprüfung und nach zweieinhalb Jahren die Abschlussprüfung statt. Anschliessend habe ich die schweizerisch anerkannte Prüfung gemacht, damit ich den offiziellen Titel als Schauspielerin bekam.
Ich habe dann alles Mögliche gemacht, Märchen erzählt, Kasperlitheater und Hofdame im Stadttheater gespielt. Die Suche nach Engagements war hart. Später erhielt ich eine Rolle im Sommertheater in Winterthur, das war entscheidend. Ich wurde ins kalte Wasser geworfen und ich habe gelernt, was es bedeutet, Schauspielerin zu sein. Wir hatten jede Woche eine Premiere. Das heisst, dass ich während der ganzen Woche Aufführungen hatte und nebenbei ein neues Stück lernen und proben musste. Es war ein irrsinniger Krampf. Da kam ich wirklich auf die Welt, aber ich habe es genossen. Mit Dienstmädchen- und Töchterrollen fing alles an, am Schluss hatte ich eine Hauptrolle. Einmal habe ich auf der Bühne einen Rückwärtssalto gemacht, das war ein Erfolg. Ich war aber keine Schönheit, vielleicht herzig, aber ich hatte keine erotische Ausstrahlung. Nachträglich denke ich, dass ich komplett überfordert war. Aber ich habe es durchgezogen.
Während dieser Zeit habe ich Hans kennen gelernt. Er hatte neben meinem Elternhaus ein Zimmer. Mein Bruder ging zu ihm in die Schule. Meine Mutter war ganz froh, dass ein neuer, junger Lehrer die Klasse übernahm. Richtig kennen gelernt haben wir uns 1951 am Züri Fäscht. Das war eine Riesensache. Jede Gemeinde musste eine Produktion auf die Beine stellen. Mein ehemaliger Oberstufenlehrer fragte mich an, ob ich etwas mit den Mädchen einstudieren könnte. Wir haben dann auf einem Wagen ein Ballettstück inszeniert. Wir waren Seejungfrauen, unten Fisch, oben Frau. So sind wir von Meilen nach Zürich gefahren. Das Wetter war eine Katastrophe, wir tanzten im Regen. Spontan habe ich mich entschlossen, ein Fest in meinem Elternhaus in Feldmeilen zu machen. Dazu brauchten wir noch Männer. Ich habe die Initiative ergriffen und den jungen Lehrer eingeladen. Da habe ich mich dann richtig in Hans verliebt.
Ich wusste, dass das Engagement in Winterthur bald fertig war und ich wieder zum Vorsprechen musste, heute sagt man Casting. Ich war sogar in Österreich für Filmaufnahmen. Die haben aber gesagt, bevor die Zähne nicht alle schön sind, kann ich nicht zum Film. So habe ich mich entschieden. Im April 1952 haben Hans und ich geheiratet.
Es war keine einfache Entscheidung. Bald nach der Hochzeit wurde ich schwanger. Wir haben ein Haus gebaut. Mein Vater gab uns das Geld. Wir hatten gute Voraussetzung und ein unterstützendes Elternhaus. Wenn ich ein Engagement hatte, das mehrere Tage dauerte, durfte ich die Kinder zu meiner Mutter bringen. Während dieser Zeit mussten wir sehr fest sparen. Die Kleider für unsere Kinder habe ich selber genäht. Ich musste üben bis ich den Hosenschlitz herausgefunden habe.
Seit meiner Ausbildung zur Schauspielerin war ich Mitglied des Kammersprechchors Zürich, insgesamt 52 Jahre. Es war mein „Lehrblätz“. Ich kam mit Leuten vom Theater zusammen, konnte meine sprachliche Ausbildung anwenden und hatte jede Woche eine Probe. Wir hatten damit riesen Erfolg und konnten in halb Europa auftreten. Ellen Widmann, unsere Sprachlehrerin, war eine ganz tolle Schauspielerin. Sie fand die Chöre im Theater miserabel und gründete ihren eigenen Sprechchor. Unter den Freiwilligen befanden sich viele Berühmtheiten wie Elisabeth Schnell, Heidi Maria Glössner, Max Rüeger, Hanny Fries und Oliver Fueter. Wir haben geübt miteinander zu reden, ohne Noten, mit der Atemführung und Zäsuren. Irgendwann tauchte der Komponist Wladimir Vogel auf, welcher ein riesiges Werk, ein Oratorium, geschrieben hat. Es hiess „Wagadus Untergang durch die Eitelkeit“. Wladimir Vogel wollte mit uns zusammenarbeiten, da wir der einzige Sprechchor weltweit waren. Wir haben uns ein Jahr lang in dieses eineinhalbstündige Stück reingebissen. Es war eine Sensation, eine neue Welle, moderne Musik. Wir bekamen Anfragen von verschiedenen Funkhäusern in Europa. Wir waren unter anderem in Berlin, Paris, Venedig. Der Sprechchor wurde meine grosse Leidenschaft. Später gab es leider keine Komponisten mehr. Der Rap entstand, der aber nicht komponiert ist. 1999 wurden wir zum 250. Geburtstag von Goethe nach Frankfurt am Main eingeladen und haben Goethes Balladen wie z.B. der Erlkönig gesprochen. Es war meine letzte Aufführung, ein wunderschöner Abschluss. Ich war nun 70 Jahre alt und mir wurde klar, ich mag nicht mehr. Es ist ein Stress.
In den 70er Jahren war ich mittlerweile bekannt im Dorf und wurde für verschiedene Aufgaben angefragt. So habe ich dann siebzehn Jahre für den Zivilschutz gearbeitet und mich bis zur Sanitätsinstruktorin weitergebildet. Sie brauchten eine rassige Frau, die die Männer motivieren konnte. Das ist mir gelungen, wir hatten viele lustige Jass-Abende. Auch in der Kirchenpflege habe ich drei Amtsdauern, also zwölf Jahre, gearbeitet, im Ressort Veranstaltungen. Das lag mir natürlich. Es war eine schöne Aufgabe, die mir viel gab und meinen Glauben gestärkt hat. Christoph Blocher war mein Nachbar, mit ihm habe ich jeweils die Predigt nach der Kirche auseinandergenommen. Seine Frau war auch Lehrerin und eine Kollegin von Hans.
Hans wurde 2006 krank und starb 2010. Er wurde altersschwach und dement, das war das Schlimmste. Ich konnte ihn nicht mehr zu Hause pflegen. Das letzte Jahr war er im Pflegeheim. Das war für mich sehr schlimm. Aber wir hatten es sehr schön. Als unsere Kinder grösser waren, konnten wir wieder vermehrt reisen und wandern. Wir waren sieben Mal in Amerika, da unser ältester Sohn, Balz, nach Ohio auswanderte. Der erste Besuch war nicht einfach, da wir die zukünftige Schwiegertochter Lauren gar nicht kannten. Amerika war eine andere Welt, eine andere Kultur und vor allem eine andere Sprache. Es brauchte Zeit, sich gegenseitig näher zu kommen. Mit über 50 Jahren musste ich noch Englisch lernen. Meine Enkelkinder in Amerika meinten: „Grandmum speaks a little bit crazy“. Meine Söhne Balz und Martin sind aufgewachsen wie Zwillinge, vierzehn Monate auseinander. Immer miteinander, aber total verschieden. Ich war sehr stolz auf Martin, als er Regierungsrat wurde. Auch meine Mutter hatte Martin sehr gerne, er konnte ihr den Schmus machen.
Ich bin in meine Ehe reingetrampelt, ohne zu wissen, was mich erwartet. Nach dem die Buben grösser waren, hatte ich eine persönliche Krise. Ich war ein „Luftibus“, aber Hans und die Kinder gaben mir Selbstvertrauen und machten mich bodenständiger. Mit Hans konnte ich gar nicht streiten, entweder gab er nach oder er sagte nichts. Eine Streitkultur hatten wir nicht. Hans hat mich jedoch immer unterstützt. Ohne ihn wäre vieles nicht möglich gewesen. Mit Regine, unserer Tochter, kam noch ein Geschenk. Meine Zweifel verflogen. Ich hatte wieder eine Aufgabe und immer noch einen wunderbaren Mann an meiner Seite – ich hatte Glück. Auch später war ich sehr integriert bei der Familiengründung von Regine und ihrem Mann Ruedi und konnte dabei sein, wie meine Enkelkinder aufgewachsen sind. Heute telefonieren sie, helfen mir am Computer und kommen mit mir ins Theater.
Ich bereue nichts, ausser dass ich nie auf eigenen Beinen stand. Ich hatte nie eigenes Geld, ausser vom Zivilschutz. Als ich gestern in meinem Leben „genuscht“ habe, wurde mir bewusst, dass ich ein schönes Leben hatte und viel lachen konnte. Das Wichtigste ist, dass man das Leben so lebt, dass es Sinn ergibt. Dass man Aufgaben hat, die einen befriedigen und sich akzeptieren kann, wie man ist. Nächstenliebe ist der Schlüssel zu einem glücklichen Leben.
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N°3 Christoph Kühner
*7. Februar 1938 - Pilot, Weltenbummler und Vater
Christoph lebt in Berlingen. Die Gemeinde liegt am Südufer des Untersees, einem Teil des Bodensees. Meine Reise in die Ostschweiz beginnt früh morgens, bei strahlendem Sonnenschein. Als ich am Bahnhof Berlingen ankomme, nimmt mich Christoph herzlich in Empfang. Zusammen spazieren wir zu ihm nach Hause. Er lebt mit seiner Frau Marianne seit fünf Jahren in einer kleiner Wohnung. Der Ausblick auf den See ist fantastisch. Unser Gespräch beginnen wir auf der Terrasse. Nach dem gemeinsamen Mittagesessen führt mich Christoph zum Seeufer in Berlingen. Vor kurzem hat er das Stand Up Paddling für sich entdeckt. Wieder zuhause angekommen, gönnen wir uns ein Glace; mittlerweile ist es richtig heiss. Am späteren Nachmittag fahren wir zu dritt in die Nachbarsgemeinde Salenstein, die sich gegenüber der Insel Reichenau befindet. Wir besuchen das Schloss Arenenberg mit dem Napoleonmuseum und den wunderschönen Park, den er gerne mit Marianne besucht.
Geboren wurde ich in Basel-Land, in Reigoldswil. Mein Vater war Pfarrer. Er war Stadt-Basler und stolz darauf. Meine Mutter ist in Heimberg aufgewachsen. Sie haben sich in Lugano kennen gelernt, als mein Vater Vikar war. Ich bin das älteste von vier Geschwistern. Im Frühling 1941 sind wir von Reigoldswil nach Gwatt am Thunersee gezogen. Später habe ich durch einen Freund meines Vaters erfahren, dass in dieser Zeit viele Richtung Réduit ausgezogen sind. Nah an der Grenze hatte man Angst während des Kriegs. In Gwatt leitete mein Vater eine Heimstätte. Da habe ich angefangen zu realisieren, was um uns herum so läuft und passiert. Die Erinnerungen sind „schampar“ stark. Ich erinnere mich noch gut an meinen Schulweg über die Kanderbrücke Richtung Einigen. Sie war aktiv miniert. Mit einem Knopf hätte die Brücke in die Luft gesprengt werden können. Wir haben uns immer wieder mit den Wachsoldaten unterhalten. Nach Kriegsende haben wir den Frieden in der Schule gefeiert. Aus Moss, Schindeln und Holz haben wir Friedensschiffchen gebaut und den Glütschbach herunter gelassen.
Am Thunersee habe ich meine Liebe zum See entdeckt. Ich weiss noch gut, wo sich der Schlüssel zum Bootshaus befand. Am Sonntagmorgen, als alle noch geschlafen haben, bin ich ins Büro runtergeschlichen und habe den Schlüssel geholt. Im Sommer bin ich bei Sonnenaufgang mit dem Ruderboot auf den See. Ich war ungefähr fünf Jahre alt. Einmal ist meine Mutter frühzeitig erwacht; sie entdeckte mich mutterseelenallein auf dem See. Da bekam ich wahrscheinlich das erste Mal auf den Ranzen. Einige Jahre später sind wir samt meinem „Chüngel“ nach Egerkingen in ein richtiges Pfarrhaus gezogen. Mein Vater war für neun Gemeinden zuständig. Ab und zu begleitete ich ihn bei Gemeindsbesuchen. Wenn die Säuglinge geschrien hatten, bekamen sie etwas Zucker und Schnaps, dann waren sie ruhig.Während dieser Zeit ist neben dem Dorf eine Fieseler Fi 156 Storch gelandet. Ich wollte alles von den Piloten wissen. Sie versicherten mir, dass sie am 1. April noch einmal kommen. Ich ging hin und schwänzte die Schule. Aber natürlich kam niemand. Ich musste es meinem strengen Lehrer beichten. Er konnte sich vor Lachen nicht mehr halten. Trotzdem bekam ich eine „Ströfzgi“. Ich musste mit meinen Knien auf ein spitzes „Schitli“ knien neben dem Pult.
Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich die Aufnahmeprüfung für das Progymi in Olten gemacht. Ich bin richtig „geschwommen“. Von Mathematik hatte ich keine Ahnung. Trotzdem gaben sie mir ein halbes Jahr Probezeit, da sie das Problem kannten. In der Schulbibliothek lieh ich erstmals Bücher aus, Fliegerabenteuerbücher von Torsten Scheutz und ein Lexikon von allen möglichen Fluggeräten. An einem Flugtag der Segelfluggruppe Olten konnte ich erstmals Flieger von Nahem bestaunen. Ein Jahr später sind wir nach Oerlikon gezogen. Auf Wunsch des Vaters machte ich die Aufnahmeprüfung für das Literargymnasium. Auch diese Prüfung habe ich verhauen. Sie meinten aber, dass sie wissen, das aus dem Kanton Solothurn nichts Gescheites kommt. Wiederum wurde mir eine halbjährige Probezeit gewährt. Nach einem Jahr wurde ich provisorisch promoviert. Meine Eltern erkannten, dass das Literargymi vielleicht doch nicht das Richtige für mich war. Ich wechselte an das Freigymi. Das war für mich ein Glücksfall. Hier gingen die Lehrer auf uns ein. In den zwei letzten Schuljahren hätte ich am Freigymi Fecht-Training müssen. Das gefiel mir nicht, als Alternative besuchte ich Ballettstunden. Das war das strengste sportliche Training, das ich je absolviert habe.
Bereits vor der Matur durfte ich den fliegerischen Vorunterricht besuchen. In dieser Zeit wurde mir klar, dass ich Militär- und Swissairpilot werden möchte. Nachdem ich mit einer guten Matura abgeschlossen hatte, studierte ich zwei Semester Romanistik. Das Fliegen war nach wie vor meine Leidenschaft. Mit 21 wurde ich als Militärpilotaspirant für die Rekrutenschule selektioniert. Nach längeren gesundheitlichen Beschwerden während des Militärs machte ich die Aufnahmeprüfung bei der Swissair. Mein Lebenslauf mit dem Ballett und der Romanistik war für die Prüfungsexperten der Swissair irritierend. Ich musste mich zuerst bewähren. So studierte ich Bauingenieur an der ETH. Nach dem Studium konnte ich die SLS-Schweizerische Luftverkehrsschule absolvieren, die vom Bund finanziert und von der Swissair betrieben wurde. Privat hatte ich bereits das Berufspilotenbrevet gemacht. Auf der Douglas DC-3 lernte ich das Fliegen als professioneller Pilot – alles war noch Handarbeit. Ausser dem Funk war nichts digitalisiert.
Mit 28 Jahren wurde ich brevetiert und als Swissair Co-Pilot anerkannt. Kurze Zeit später lernte ich meine erste Frau – sie war Hostess bei der Swissair – kennen. Zusammen wohnten wir in Rüti-Winkel, vis à vis der Blindlandepiste. 1971 war ich als Co-Pilot der DC-8 für ein Jahr in Bangkok stationiert. Wir flogen die Strecke Bangkok – Hongkong – Tokio mit einer Übernachtung und wieder zurück, manchmal über Manila. Das war ein Highlight. Vier Jahre nach unserer Rückkehr in die Schweiz kam unser Sohn Fabian 1976 zur Welt. Ein Jahr später zogen wir nach Zumikon um. Schon länger spürte ich, dass es zwischen meiner ersten Frau und mir nicht mehr harmonierte. Ich entschied mich für eine eigene Wohnung in Berg am Irchel im Zürcher Weinland. Im selben Jahr kaufte ich ein Bauernhaus in Waltalingen. Das Weinland hatte mir schon immer viel bedeutet, ich fuhr viel mit dem Velo und dem Töff durch die Gegend. Ich schlug meiner Frau vor, wieder mit mir zusammenzuwohnen. Wir probierten es noch einmal. In Waltalingen war ich politisch sehr aktiv, zuerst in der Rechnungsprüfungskommission, dann im Gemeinderat und anschliessend vier Jahre als Gemeindepräsident.
Ende der 80er Jahre erfuhr ich von einen Schulfreund, dass er sein Schiff verkauft. Trotz der Bedenken meiner Frau kaufte ich es. Dadurch bin ich nach Berlingen zum Segeln gekommen. Hier lernte ich Marianne kennen. Sie war bereit, mit mir aufs Schiff zu kommen. Ich habe ihr noch gesagt, sie solle bedenken, dass wir auf dem Schiff sehr eng zusammenleben würden. In Korfu hat es zwischen Marianne und mir richtig gefunkt. Von da an wusste ich, dass ich nicht glücklich war mit meiner ersten Frau. Unser Sohn war zu diesem Zeitpunkt bereits in den Maturavorbereitungen. Es war immer mein Gedanke, nicht zu gehen, wenn er mich noch brauchte. Nach fünf Jahren liessen wir uns scheiden. Marianne und mir wurde klar, dass wir für längere Zeit segeln gehen wollten.
Nach 22 Jahren als Captain wurde ich 1995 von der Swissair pensioniert. Es war eine super Zeit. Am Schluss, die letzten sechs, sieben Jahre hat man vor allem auf den Langstrecken gespürt, dass es so nicht weiter gehen konnte. Trotzdem kam es 2001 zu einem Drama. Das Grounding war für uns ein Schock. Ich war mit Marianne mit unserem Schiff in Malta. Wir hatten Besuch von Freunden, die mit der Swissair hin flogen, dann mit Air Malta heimfliegen mussten.
Kurz vor der Jahrtausendwende kauften Marianne und ich ein Schiff in Amerika und lösten im Herbst 2000 den Wohnsitz in der Schweiz auf. Mit einem Spezialtransporter verfrachteten wir das Schiff von den USA nach Malta, da noch einiges repariert werden musste. Vieles war eigene Handarbeit, einiges haben wir machen lassen. 2003 war das Schiff fertig. Die Reise ging Richtung Südspanien, nach Almería und über Gibraltar in die Nähe von Cádiz. Vom spanischen Festland fuhren wir nach Madeira. Da gefiel es uns so gut, dass wir fast das Schiff verkaufen wollten. Unser nächster Turn führte uns zu den Kanarischen Inseln nach La Gomera. Auch da sind wir länger geblieben. Nach einem Winter segelten wir weiter nach Sal auf den Kapverdischen Inseln. Da war es irrsinnig schön und wir pflegten einen guten Kontakt zu den Einheimischen. Von Sal aus überquerten wir den Atlantik innert rund zwölf Tagen. Meine Kenntnisse über das Wetter und die Navigation halfen mir beim Segeln sehr.
Für uns stand stets das Reisen im Vordergrund. Das Schiff war Mittel zum Zweck, um Länder, andere Menschen und Kulturen zu erleben. Mit dem Schiff kommt man an Orte, die sonst schwierig zu erreichen sind. Man ist langsam unterwegs und das Haus hat man auch immer dabei. 2005 segelten wir von Recife um die Nordostspitze Brasiliens nach Fortaleza – eine fantastische Küstengegend. Die Karibik, Venezuela, die Anden und die ABC Inseln waren weitere Stationen unserer Reise. In Bonair bekamen wir leider die tragische Nachricht, dass die Mutter von Marianne gestorben war. Marianne flog nach Idaho und blieb für vier Wochen bei ihrer Familie. Danach segelten wir weiter zu den San-Blas-Inseln. Eine Inselgruppe vor Panama, die aus etwa 365 Inseln besteht. Von da aus durchquerten wir mit Bekannten den Panamakanal. Das war eindrücklich. Zwischen Panama City und den Perleninseln war der Abfall ein riesen Problem. Das Meer war voll von Plastik, Draht, Röhren auf Riesen-Holzfässer. Es vergingen keine fünf Minuten, dann hatten wir beim Fischen den ersten Plastiksack am Haken. Auch während der Atlantiküberfahrt sahen wir tonnenweise Plastik. Von Panama fuhren wir weiter nach Costa Rica in eine schöne Bucht. In El Salvador flogen wir für einige Monate zurück in die Schweiz. Marianne und ich hatten mittlerweile entschieden, zu heiraten. Das war gar nicht so einfach, da wir als Globetrotter in keiner Gemeinde angemeldet waren. Nach langem Hin und Her heirateten wir am 19. Juni 2009 in Steckborn. Unsere letzte Station war Mexiko. Zuerst waren wir am Festland in Mazatlán und dann machten wir einen Turn zur Halbinsel Baja California nach La Paz. Da sahen wir Seehunde, Rochen und Walhaie, Buckelwale, es war sensationell. In Puerto San Carlos bekamen wir die Nachricht, dass der Vater von Marianne gestorben war und ihre Schwester einen Hirnschlag hatte. So beendeten wir 2014 unsere Reise.
Seither haben wir eine gemeinsame Wohnung in Berlingen. 2016 reisten wir für einen Monat nach Khao Lak in der Nähe von Phuket. Marianne hatte einige Vorurteile gegenüber Thailand. Mir gefiel der Ferne Osten und die Mentalität schon immer. In der Nähe von Chiang Mai fanden wir ein Ressort, in welchem die Schwester von Marianne leben kann. Seit dem Hirnschlag ist sie pflegebedürftig. Seither pendeln wir zwischen der Schweiz und Thailand. Den Sommer verbringen wir hier in der Schweiz und die anderen acht Monate leben wir in Thailand.
Der Altersunterschied zwischen Marianne und mir ist kein Problem; uns kommt es auf den Charakter und die inneren Werte an. Natürlich bin ich um einiges älter. Marianne ist sich dessen bewusst. Wir sprechen über den Tod. Rückblickend würde ich in meinem Leben alles noch einmal ganz genau gleich machen wollen. In den 15 Jahren auf dem Schiff, ist mir vieles klar geworden, das vorher kein Thema war. Als Swissair Pilot lebte ich im Luxus. Wir waren immer in den besten Hotels. Auf dem Schiff wurden ganz andere Werte von Bedeutung. Ich musste lernen, ökologischer und nachhaltiger zu denken und zu leben. Auf so engem Raum habe ich auch gelernt, was es bedeutet, wenn jemand hundertprozentig hinter mir steht. Ich musste meinen Beitrag leisten, auch für die Beziehung. Marianne fordert mich, auch heute noch. Wir gehen jeden Tag eine Stunde spazieren. Sie findet, dass ich noch einen zügigen Schritt habe. Vor kurzem habe ich mit dem Stand Up Paddling begonnen. Mit der Seniorengruppe Ermatingen gehe ich alle zwei Wochen wandern, natürlich mit Kaffee und Nussgipfel. Letzthin waren wir im Bündnerland biken, 300km in vier Tagen. Geistig halte ich mich fit indem ich jeden Tag online die Zeitung lese.
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N°4 Margaretha von Rotz
*12. August 1928 - Lyrikerin, Hausfrau und Mutter
Gret lebt in Kriens direkt neben der Talstation der Pilatus Bahnen. Mit dem Bus fahre ich bis ins Dorfzentrum, den Rest gehe ich zu Fuss. Der Luzerner Hausberg wirkt mächtig, nah und imposant. Gret lebt seit über acht Jahren in der obersten Etage in einem grossen Block ohne Lift. Sie empfängt mich mit einem strahlenden Lächeln. Die Wohnung ist klein, dafür hell und modern. Zusammen machen wir es uns auf dem Balkon gemütlich. Die Aussicht auf das Schloss Schauensee und den Pilatus ist eindrucksvoll. Gret kommt schnell ins Erzählen. Ihre grosse Leidenschaft ist das Schreiben. Überall in der Wohnung hat sie Tagebücher, Texte und Gedichte verstaut – sogar in der Küche. Gegen Mittag machen wir uns auf den Weg in den Kanton Obwalden. Gret möchte mir ihre Heimat zeigen. Mit Bus, Bahn und Postauto reisen wir nach Kerns, ein kleines Dorf, das sich oberhalb von Sarnen befindet.
Heute erlebe ich die Natur viel intensiver als früher; sie tröstet mich. Ich mag den Frühling, liebe den Sommer – der Winter macht mir fast ein wenig Angst. Dunkelheit und Kälte setzten mir zu. Ich bin jeden Nachmittag unterwegs. Ich kann nicht nur hier sitzen. Oft gehe ich nach Luzern an den See und beobachte die Enten. Früher, als ich noch besser zu Fuss war, ging ich gerne in der Altstadt flanieren, um das Leben zu spüren. Jetzt kann ich nicht mehr so lange und weit spazieren. Wenn man so alt wird, muss man Abstriche machen. Deshalb geniesse ich ab und zu einen Kaffee im „Hermitage“. Ich lese jeden Tag den Tagesanzeiger. Solche Ausflüge gönne ich mir. Das ist mein Luxus.
Ich bin in Kerns aufgewachsen. Meine Eltern führten da eine Pension, das „Chalet Nideich“. Hier lebten wir bis ich fünf Jahre alt war. Mein Vater hatte eine Schreinerei am anderen Ende des Dorfes. Meine Mutter war gelernte Köchin – eine Seltenheit in dieser Zeit. Ich habe eine Schwester. Emma ist fünf Jahre älter als ich. Im Sommer war immer viel los in der Pension. Unsere Mutter hatte dann nicht so viel Zeit für uns. Dafür haben wir den Winter genossen, wenn die Pension geschlossen war und wir das ganze Haus für uns alleine hatten. Mit der Zeit kamen weniger Gäste; es ging uns nicht mehr so gut. Mein Vater war auch nicht mehr bereit, seinen ganzen Verdienst aus der Schreinerei in die Pension zu stecken. So haben meine Eltern die Pension verkauft. Mit dem Geld bauten wir ein Haus auf die Schreinerei. Als das Haus fertig war, habe ich damit „plagiert“. Vater hatte alles mit Holz getäfert und eine schöne Treppe eingebaut. Wir hatten sogar ein Bad. Das war nicht selbstverständlich. Stolz waren wir auch auf unser „Vestibül“. Wenn man die Treppe hinaufkam, war das der erste Raum mit vielen Bücherregalen und einem schönen Tisch. Nebendran war die Stube, da waren wir aber nur, wenn wir Gäste hatten. Meine Mutter hatte einen guten Geschmack, viel Stil. Sie liebte schöne Kleider für sich und die Familie. Sie liess sie bei einer Schneiderin nähen. Die wohl etwas ausgefallenen Hüte waren das Werk einer Modistin, einer Hutmacherin. Mein Vater trug sonntags Massanzüge. Weniger gefielen ihm die Kosten, die dadurch entstanden. Es war einer der wenigen Streitpunkte meiner Eltern.
Einige Jahre später ging meine Schwester in ein Pensionat nach Belgien. Ich war zwei Jahre in der Sekundarschule in Sarnen. Anschliessend habe ich ein Haushaltslehrjahr bei Nonnen in Kerns gemacht. Als der Krieg endete, kam meine Schwester aus Belgien zurück und ich musste ein Jahr nach Lausanne, um Französisch zu lernen. Mit 16 kam ich zurück und es war nicht klar, was ich nun machen sollte. Mein Vater kannte einen Metzger in Stans, da musste ich aushelfen. Das war gar nichts für mich. Danach war ich Saaltochter für eine Sommersaison in einem Hotel auf der Frutt. Auch meine weiteren Stellen im Service haben mir nicht gefallen. Während dieser Zeit hat meine Schwester geheiratet. Ihr Mann passte unseren Eltern sehr. Er brachte viel Gutes in unsere Familie. Er war sehr belesen und interessierte sich für Kunst und Musik. Meine Schwester war eher die Angepasste – ich ein „Blegermeitli“, dass gerne tanzte und flirtete.
Irgendwann äusserte ich bei meiner Mutter den Wunsch, nach England zu reisen. Mit 19 ging ich tatsächlich für ein Jahr nach London. Das brauchte Mut. Nach meiner Ankunft habe ich eine jüdische Familie kennen gelernt und konnte bei ihnen arbeiten. Im Monat habe ich ungefähr 40 Franken verdient; das hat gereicht. Ich kam ganz modisch mit einem tollen Mantel und roten „Stögelischuhen“ nach Hause zurück – die haben Augen gemacht in Kerns. In Sarnen fand ich einen Job am Kiosk. Es lief nicht viel. Dann habe ich mich total verliebt. Es war eine richtige Romanze. Christoph kam aus Lausanne und machte die Matura in Sarnen. Er hatte einen Wuschelkopf und gefiel mir richtig gut. Wir haben „geschmust“,aber Sex hatten wir nicht. Er hatte wahrscheinlich Angst. Zudem war er religiös. Unsere Beziehung ging etwa ein Jahr. Es war sehr romantisch. Anschliessend begann er das Studium in Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Ich war noch immer total verliebt. Für ihn war ich eher eine Studentenliebe, die vergeht. Ich wollte in seiner Nähe sein und fand Arbeit in einem Café in Zürich. Wir trafen uns zwei Mal. Beim dritten Mal bekam ich die Abfuhr: „Adieu Gretchen, tu trouveras ton cordonnier – du wirst deinen Schuhmacher schon finden.“ Das zeigte mir, wo ich hingehörte.
Ich kehrte nach Kerns zurück. Zu dieser Zeit arbeitete ein ehemaliger Lehrling meines Vaters in unserer Schreinerei. Walti war genau mein Typ; mediterran, schön braun, schwarze Haare, weisse Zähne und sportlich. Er kam aus einer armen Familie. Da Walti sich beim Ski fahren das Bein gebrochen hatte, durfte er bei uns übernachten. Mein Zimmer war gleich nebenan. Den Rest kann man sich ausdenken. Ich hatte noch den Moralischen wegen Christoph. Daher war es schon meine Absicht, Walti zu verführen. Ich war 24 Jahre alt, er fünf Jahre jünger. Zum ersten Mal hatte ich einen Orgasmus. Das war eine neue Erfahrung. Wir haben uns ständig getroffen. Es kam mir vor, als brenne die Wand zwischen uns. Einmal kam mein Vater, dann musste ich Walti unter der Bettdecke verstecken. Später rückte Walti in die Grenadierschule im Tessin ein. Er war klein, wollte aber etwas Grosses sein. Ich hatte eine Stelle in Flüelen. Da bemerkte ich, dass ich schwanger war. Ich habe es nur meiner Schwester gesagt. Walti wusste es nicht. Im sechsten Monat habe ich ihm einen Brief geschrieben. Im achten Monat ging ich weg von Flüelen zurück nach Kerns. Meine Eltern haben es besser aufgenommen, als erwartet. Walti war zum Glück der Lieblingslehrling meines Vaters. Als Walti zu uns nach Hause kam, sass ich draussen im Stübli. Ich hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, aber es war nicht so. Mein Vater sagte Walti, er müsse mich nicht heiraten, aber etwas daran zahlen. Für die Geburt durfte ich nicht in den Kantonsspital Sarnen, sondern musste ins Heim für ledige Mütter in Hergiswil. Da kam Margrit am 5. Dezember 1952 zur Welt. Ich hatte das Gefühl, dass ich trotzdem eine Familie möchte. So habe ich Walti immer wieder Briefe geschrieben. Mittlerweile wohnte er in Brunnen. Da habe ich ihn mit dem Baby besucht. Irgendwann hatte ich ihn so weit gebracht, bis er mich am 17.10.1953 im Flüeli geheiratet hat. Das war dumm. Er passte eigentlich gar nicht zu mir. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich ein Niemand bin. Als Ehe- und Familienfrau bekam ich einen gewissen Stellenwert. Zusammen sind wir in eine kleine Wohnung in Kerns gezogen. Am 1. September 1954 kam unser Sohn Walter zur Welt und am 5. Mai 1957 unsere zweite Tochter Heidi.
Die Anfangsjahre waren schön. Wir hatten wenig Geld, aber das ging gut. Mein Schwager hatte die Idee, dass sich Walti bei der Polizeischule anmelden solle. Er wurde aufgenommen. Es war ein sehr angesehener Beruf, wir waren stolz auf ihn. Während dessen lebten wir im Haus meines Vaters, der inzwischen Wittwer war. Als die Schule vorbei war, mussten wir nach Sarnen ziehen. In dieser Zeit hat sich Walti stark verändert. Er war sportlich und sehr gutaussehend, das fand aber nicht nur ich. Im Samariterverein lernte er eine Frau aus dem Dorf kennen. Irgendwann brachte er sie nach Hause. Sie kam aus gutem Haus, das hat ihm imponiert. Prestige war ihm wichtig. Eigentlich war ich die Schönere, sie hat mir gar nicht gefallen. Sie kam immer wieder zu Besuch, brachte Geschenke für die Kinder. Nach einiger Zeit durften sie auch zu ihr in die Ferien. Ich wurde sehr eifersüchtig. Wenn ich etwas zu Walti gesagt habe, wurde er wütend und sagte, dass ich mir alles nur einbilde. Es waren schlimme Jahre für mich. Mir wurde bewusst, dass die Ehe kaputt war. Wir waren 25 Jahre verheiratet, davon hat er mich während 20 Jahren betrogen. Ich blieb vor allem wegen der Kinder und weil es schwierig war, sich scheiden zu lassen.
Im Jahre 1962 musste ich ein Mädchen tot zur Welt bringen, wegen Rhesus-Unverträglichkeit. Diese wurde erst im neunten Monat erkannt. Ich musste das Kind noch drei Wochen bis zur Geburt behalten. 1964 wiederholte sich das Schicksal. Daraufhin rief mich meine Hebamme an. Eine Frau brachte ihr elftes Kind zur Welt und suchte einen Platz für ihren neugeborenen Jungen. Da ich alles bereit hatte, nahm ich Beat als Pflegkind bei uns auf. Ich habe ihn sehr geliebt; er war ein sensibler Junge. Mit sieben ist er im nahen Bach ertrunken.
Nun war alles zerstört; es ging mir sehr schlecht. Mit 43 war ich noch eine relativ junge Frau. Mir fehlten Streicheleinheiten und Zärtlichkeit. Meine jüngste Tochter Heidi arbeitete in den Sommerferien in einer Glasfabrik in Sarnen. Sie brachte einen Arbeitskollegen mit nach Hause. Sevki kam aus der Türkei. Irgendwie entstand etwas zwischen uns, obwohl er 17 Jahre jünger war. Er hat mich erotisch angezogen. Ich konnte jeweils zu ihm, da er eine Wohnung in Sarnen hatte. Mein Mann wusste es wahrscheinlich, aber es war ihm egal. Nach 20 Jahren, während denen er mich hintergangen hatte, war mir das auch egal. Meine Kinder wussten nichts davon. Nach einem Jahr ging ich mit Sevki in die Türkei. Durch ihn habe ich die Sprache und das Land lieben gelernt. Auch als unsere Liaison vorbei war, reiste ich noch dreimal Mal in die Türkei. Mir ging es moralisch immer noch nicht gut. Walti und ich trennten uns. Ich nahm eine kleine Wohnung in Luzern und habe bei Architekten gereinigt. Margrit war in Frankreich, Walter machte eine Lehre als Bildhauer. Heidi wollte keine Lehre machen. Sie arbeitete in einem Blindenheim. Eines Tages bekam ich das Telefon, dass sie aus dem Fenster gesprungen sei. Sie überlebte, brauchte aber ein Korsett und bekam psychische Probleme. Heute lebt sie allein in Sarnen. Ich sehe meine Kinder regelmässig. Wir pflegen eine gute Beziehung.
Ich philosophiere gerne. Meine Gedanken schreibe ich in Tagebücher. 1994 hat die Kunststoff AG in Sarnen einen Schreibwettbewerb ausgeschrieben. Walter, mein Sohn, wollte dass ich mit meinen Mundartgedichten teilnehme. Tatsächlich habe ich den Innerschweizer Literaturpreis gewonnen und erhielt 7’500 Franken. Ich war stolz und durfte eine Vorlesung halten; das war toll. Ich habe schon in der Schule gerne geschrieben und vorgelesen. Ich besuchte auch Schreibwerkstätten und habe Leute kennen gelernt, die auch gerne schreiben. Ich bin heute sehr froh, dass ich das Schreiben habe, so wird es mir nie langweilig.
Durch mein Interesse für die Türkei wurde ich auf das Kurdenproblem aufmerksam. Das Thema hat mich tief bewegt. Einige Jahre später besuchte ich den „Sentitreff“ an der Baselstrasse in Luzern. Das ist eine Begegnungsstätte zwischen Ausländern und Schweizern. Ich habe sofort Leute kennen gelernt. Eine Mitarbeiterin erzählte mir von einem Tibeter, der Unterstützung im Deutsch suchte. Er kommt seit sechs Jahren jede Woche zu mir. Ich helfe ihm, Briefe zu übersetzten, löse mit ihm Aufgaben aus dem Deutschkurs oder übernehme Telefonate für ihn. Manchmal geht es auch um Gepflogenheiten, um unsere Kultur und ganz alltägliche Konversationen. Diese Begegnungen bedeuten mir sehr viel. Ich erlebe sehr schöne Momente, habe weniger Vorurteile als früher, versuche nicht zu werten.
Früher habe ich immer von der grossen Liebe geträumt. Das war mein Lebensthema. Langsam musste ich lernen, dass es sie nicht gibt. Ich musste 75 Jahre alt werden, um zu realisieren, dass es keinen perfekten Mann für mich gibt. Man sagt, dass man im Alter stur wird. Diese Seite habe ich an mir, wenn ich z.B. an die Digitalisierung denke, der ich mich bewusst verweigere. Seit 15 Jahren verzichte ich auf das Fernsehen. Meine Fantasie bedient mich gut mit inneren Bildern. Jeden Tag sehe ich Jung und Alt im Bus mit ihren Handys und ihren Stöpseln in den Ohren. Niemand schaut mehr raus, kein Lächeln, nichts. Es ist traurig.
Heute kann ich für mich sagen, dass ich trotz aller Schattenseiten ein gutes Leben hatte. Ich habe den Schmerz, das Schöne, das Helle und die Liebe kennen gelernt. Ich habe alles überlebt und bin heute noch da. Es ist wichtig, dass man sich selber kennen lernt. In jungen Jahren macht man sich lange etwas vor. Mit der Zeit, durch verschiedene Erfahrungen, lernt man sich zu akzeptieren, zu schätzen und anzunehmen. Ich bemühe mich immer noch, an mir zu arbeiten. Früher ging ich abwertend mit mir um. Das Leben gab mir die Chance, mich anzunehmen, mit all meinen Fehlern, liebevoller und gnädiger zu sein mit mir und meinem Umfeld.
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N°5 Beatrice Ruth Brianza
*2. Januar 1944 - Betreuerin, Hausfrau und Mutter
Beatrice lebt in Ascona. In jungen Jahren ist sie von Bremgarten ins Tessin gezogen. Heute ist dies ihre Heimat. Früh morgens fahre ich mit dem Zug in die Sonnenstube der Schweiz. Ich werde nicht enttäuscht. Das Wetter ist wunderbar. Ich treffe Beatrice in ihrem Zuhause. Sie lebt seit rund 21 Jahren in einer kleinen Wohnung mit grosszügigem Garten. Überall in der Wohnung sind verschiedene Engel zu sehen. Sie gefallen Beatrice und bringen ihr Glück. Im Garten erzählt sie mir von ihrem spannenden Leben. Sie hat viel Humor, wir lachen oft und herzhaft. Am Nachmittag schlendern wir durch Ascona, den Ort, den sie mir zeigen möchte. Wir spazieren durch die engen, dunklen Seitengassen zur Piazza und zur Seepromenade des Lago Maggiore. Auch in der Kirche machen wir kurz Halt. Auf dem Weg wird Beatrice von vielen Menschen erkannt. Mehrmals klingt es von weitem „Ciao Bea!“. Die offene und warme Mentalität im Tessin ist überall spürbar. Wieder zuhause angekommen, gibt es Kaffee und „Dolci“.
Meine Eltern tauften mich Beatrice, mein gebürtiger Name ist aber Ruth. Am Sonntag, 2. Januar 1944, ist in der gleichen Strasse ein anderes Mädchen zur Welt gekommen. Sie sollte Ruth heissen. Mein Vater und der Stadtschreiber gingen zuerst eins „gügelen“; erst danach wurden die beiden Familienbüchlein geschrieben. Der Stadtschreiber hat tatsächlich die Familienbüchlein verwechselt. Kurz vor meiner Hochzeit musste ich mein Familienbüchlein dem Stadtammann bringen. Er kannte mich nur als Beatrice und war dann ziemlich irritiert, als er im Familienbüchlein meinen Vornamen „Ruth“las. Meinen Eltern ist das nicht aufgefallen. Ich musste dann alles mit Ruth unterschreiben. Bis heute sind alle offiziellen Dokumente unter diesem Namen verfasst.
Mein Grossvater kam ursprünglich aus Graglio, aus der Provinz Varese in Italien und meine Grossmutter stammt aus Wohlen. Mein Grossvater war ein „Papierlischwyzer“. Er hatte sich die Schweizer Staatsbürgerschaft erkauft, damit er in der Schweiz ein Baugeschäft aufbauen konnte. An meine Kindheit habe ich schöne Erinnerungen. Ich bin in Bremgarten aufgewachsen und habe acht Geschwister. Zusammen haben wir viel „Seich“ gemacht.
Im Winter gab es neben der Reuss eine wunderbare Strecke zum Schlitteln. Einmal haben wir alle Schlitten miteinander verkeilt. Bei der Fahrt konnten wir nicht mehr bremsen und landeten im Fluss. Wir waren total nass und sind fast erfroren. Im Keller haben wir uns heimlich umgezogen. Ein anderes Mal konnte ich beim Schlitteln nicht ausweichen und bin „fadegrad“ in einen Pfahl reingefahren. Meinen Kopf habe ich grausam angeschlagen. Wir durften eine Woche nicht mehr schlitteln, als das auskam. Hinter dem Haus hatten wir einen grossen Schopf mit Hühnern und Kaninchen. Einer meiner Brüder hatte die Idee, mich wie Jesus aufzuhängen. Er hat tatsächlich einen Nagel in meine Hand geschlagen. Er ging nicht durch, er war rostig. Natürlich fing die Wunde an zu eitern. Nach drei Tagen war es so schlimm, dass ich es meinen Eltern sagen musste. Ich war etwa acht Jahre alt. Wir gingen zu einer Frau, die machte aber nur Hokuspokus. Es dauerte über vier Monate, bis die Wunde verheilt war. Man sieht die Narbe bis heute noch.
Früher gingen wir noch direkt zum Bauern frische Milch holen. Meine Mutter nahm jeweils die „Nidel“ ab. An einem Samstag war aber weder Milch noch Nidel da. Wir mussten in der Stube alle in eine Reihe stehen. Ich musste lachen und so glaubten meine Eltern, dass ich es war. Viele Jahre später kam aus, dass es einer meiner Brüder war. Auch in der Schule haben wir Unsinn gemacht. Da die Klassen altersdurchmischt waren, hatte ich immer Geschwister in meiner Klasse. Manchmal haben wir uns Briefchen geschrieben oder einander die Rechnungen gelöst. Der Lehrer Knecht fragte dann, „Beatrice, was machst du wieder? “. Ich musste wieder lachen, dann wurde er „sternsverruckt“. Er gab mir eins auf den Grind. Dabei habe ich den Kopf an der Bank angeschlagen. Zuhause wollte meine Mutter wissen, was ich gemacht hatte. Ich habe es dann gesagt. Oft gab es zuhause auch noch eins auf den „Ranzen“. Heute kann und darf man ja keinen Seich mehr machen, sonst muss man sofort zur Schulsozialarbeit. Es ist nicht mehr das Gleiche.
Ich war sicherlich nicht die beste Schülerin. Ich hatte keine Zeit zum Lernen, da ich zuhause so viel helfen musste. Ich habe viel abgeschrieben. Einmal musste ich die Klasse wiederholen, ich weiss aber gar nicht mehr warum. Wahrscheinlich habe ich zu viel „glaferet“. Am Mittwochnachmittag, als wir keine Schule hatten, mussten wir immer Holz sammeln für den Ofen. Auch in den Ferien mussten wir immer helfen, vor allem im Garten. Oft mussten wir auch zum Bauer arbeiten gehen, natürlich ohne Lohn. Dafür gab es Äpfel, Kartoffeln und manchmal ein bisschen Fleisch.
Nach der Schulzeit habe ich in der Hutfabrik Huber in Wohlen gearbeitet. Deren Strohhüte waren in der ganzen Welt bekannt. Dabei wollte ich Coiffeuse werden. Meinem Vater gefiel das aber nicht. Er wollte, dass ich ins Büro gehe, aber ich konnte doch nicht ruhig sitzen. Eine Lehre durfte ich nicht machen, nur meine Brüder. Dafür war ich 1960 für ein Jahr in der Westschweiz. In Sainte-Croix, in der Nähe von Yverdon-les-Bains, habe ich in einer Bäckerei gearbeitet, um Französisch zu lernen. Mit 17 bin ich für ein Jahr ins Tessin nach Balerna bei Chiasso. In einer Pension habe ich geholfen, Zimmer zu machen und im Service gearbeitet. Da habe ich 1962 meinen Mann Sandro kennen gelernt. Er war Gastarbeiter aus Italien und hatte ein Zimmer in dieser Pension. So hat es sich ergeben, wie es im Leben halt kommen kann: Ich wurde schwanger. Daraufhin bin ich nach Bremgarten zurückgekehrt. Sandro wusste Bescheid. Zu diesem Zeitpunkt hatte er eine Stelle in Locarno. Gleichzeitig war mein Vater krank, er hatte Krebs. Eines Morgens kam mein Vater und sagte: „Du Beatrice, heute Nacht habe ich geträumt, dass du ein Mädchen geboren hast“. Was hätte ich dazu sagen sollen, ich konnte ja nichts Falsches sagen. Mein ältester Bruder war der Einzige von der Familie, der Bescheid wusste. Er wollte, dass ich es meiner Mutter sage. Man hat noch nicht viel gesehen, ich war im fünften Monat. Eines Abends, als mein Vater nach Hause kam, sagten wir es ihm. Dann ging es los. Die Eltern wollten mich gar nicht heiraten lassen, da ich erst 18 Jahre alt war und Sandro elf Jahre älter. Daraufhin sind mein zweitältester Bruder und mein Vater nach Mailand gefahren, um die Familie von Sandro kennen zu lernen und Informationen über ihn zu erhalten. Trotz Turbulenzen haben wir am 15. September 1962 in der Madonna del Sasso in Orselina, oberhalb von Locarno, geheiratet. Einen Monat später, am 28. Oktober 1962, kam Isabella zur Welt. Für meine Eltern war das nicht einfach. In ihren Augen war ich einfach noch zu jung, um zu heiraten. Zudem war Sandro Ausländer, das war früher schwierig. So bin ich im Tessin hängen geblieben. Nach der Hochzeit sind wir zusammen nach Locarno gezogen.
Später habe ich abends im Service ausgeholfen. Nach vier Jahren wurde ich wieder schwanger. Dieses Kind habe ich leider verloren. Das machte mir zu schaffen; es ging mir nicht gut. Doch wir hatten Glück. 1971 kam meine zweite Tochter Cristina zur Welt. Zehn Monate später hatte mein Mann seinen ersten Schlaganfall, er war erst 39 Jahre alt. Er war danach halbseitig gelähmt. Innerhalb von 18 Jahren hatte er in Abständen von rund zwei Jahren immer wieder Schlaganfälle. Nach dem ersten konnte er sich gut erholen, nach dem zweiten nicht mehr. Wir mussten zwei Jahre auf die IV warten, aber von 900 Franken konnten wir ja nicht leben. Wir erhielten mit den Kinderzulagen rund 1'240 Franken. Obwohl Sandro mich brauchte, musste ich abends arbeiten. Ich habe eine Stelle im Schulhaus von Ascona gefunden, für die Schulzimmerreinigung. Während dieser Zeit schaute eine Gemeindeschwester, wie heute die Spitex, zu meinem Mann. Ich bin immer mit dem Velo von Locarno nach Ascona zur Arbeit und wieder zurück, anstatt mit dem Bus, damit ich schneller bin. Nach dem vierten Schlaganfall konnte Sandro nicht mehr schlucken, ich musste alles pürieren und er musste aus dem Schnabelbecher trinken. Es gab Momente, da hatte ich das Gefühl, ich könne nicht mehr. Einmal war ich in der Nacht so wütend, dass ich ihm gesagt habe: „Jetzt werfe ich dich dann aus dem Fenster“. Am nächsten Morgen hat er es dem Arzt erzählt. Dieser musste lachen und sagte: „Das hat meine Frau auch schon gesagt!“. Mein Mann hat vieles vergessen, aber das nicht. Es waren schwierige Nächte und ich kam an meine Grenzen. Nach insgesamt neun Hirnschlägen starb er. Die Ärzte sagten, wenn ich ihn nicht so gut betreut und gepflegt hätte, wäre er wohl früher gestorben. Bereits nach dem zweiten Hirnschlag konnte er nicht mehr arbeiten. Ich habe es geschafft. Sicher auch, weil ich jung war. Cristina, meine zweite Tochter, hat ihren Vater nie gesund erlebt.
Nach dem Tod von Sandro habe ich weiterhin an der Schule gearbeitet. Neben den Reinigungsarbeiten kamen der Mittagstisch und die Abendschule dazu. Als der Mittagstisch eröffnet wurde, hatten wir 17 Kinder. Nach einem Jahr waren es bereits 45. Ich habe das gemacht, bis ich 70 Jahre alt war. Es war sehr abwechslungsreich und ich hatte eine enge Beziehung zu den Kindern und den Lehrpersonen. Die Kinder, die früher bei mir am Mittagstisch waren, grüssen mich heute noch.
In meiner Jugend war die Kirche obligatorisch, streng katholisch. Heute sehe ich das mit dem katholischen Glauben nicht mehr so eng. Ich gehe in die Kirche, wann ich will, manchmal beim Spazieren. Ich kann ja zu Hause beten. Den Glauben pflege ich, einen Weg braucht man schon. Meinen Kindern habe ich das nach der Firmung freigestellt. Zwei, drei Mal im Jahr reichen auch. Man muss nicht nur beten, wenn es einem schlecht geht. Man muss immer daran denken, dass jemand da oben ist. Es gab auch Zeiten, da habe ich den Glauben ein bisschen verloren. Vor allem als mein Mann krank wurde. Ich habe ja nichts Schlechtes gemacht. Ich musste zwar heiraten, weil ich schwanger war, aber das ist ja keine Schande. Früher vielleicht schon.
Im Tessin ist es ungezwungener als in der Deutschschweiz. Hier macht man schnell „Duzis“. Die ganze Mentalität ist anders. Hier ist man lockerer, aber nicht faul. Ich könnte nicht mehr zurück in die Deutschschweiz. Meine Heimat ist hier im Tessin. Ich habe mich schnell eingelebt, hatte keine Schwierigkeiten und habe nichts vermisst. Die Familie habe ich trotzdem viel gesehen. Ich habe ja nur 17 Jahre in Bremgarten gelebt. Als ich aufgehört habe zu arbeiten, wollten sie mich sogar zur „Asconese“machen, also einbürgern, mir als Ehre einen neuen Heimatort geben. Aber ich wollte nicht, dabei wäre es noch gratis gewesen. Es würde mir vielleicht Vorteile bringen, damit ich schneller einen Platz im Altersheim bekomme. Aber ich habe genügend Vitamin B, man kennt sich hier. Da ich so viele Jahre in der Schule gearbeitet habe, kennt mich das ganze Dorf. Es ist gut, haben wir jetzt endlich wieder einen Bundesrat aus dem Tessin. Es ist wichtig, dass auch unsere Region in Bern vertreten wird. Richtig Freude hatte ich, als ich von der Wahl erfuhr.
Im Alter wird das Leben entspannter, wenn man zufrieden ist mit dem, was man hat.Im grossen Ganzen darf ich mich nicht beklagen. Was gewesen ist, ist gewesen. Natürlich war die Krankheit von Sandro nicht einfach. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, wäre ich auch froh gewesen, hätte er zu mir geschaut. Ich habe noch viele Erwartungen an das Leben und ich habe Träume. Wenn man keine Träume mehr hat, lohnt es sich nicht mehr zu leben. Das müssen keine grossen Sachen sein. Wenn ich im Garten bin, denke ich, nächstes Jahr mache ich es dann anders. Vielleicht finde ich mit 80 noch einen Mann, wer weiss. Ich möchte doch sehen, wie meine Grosskinder und mein Urgrosskind gross werden. Ich möchte auch wieder einmal nach Bremgarten zu meinen Geschwistern. Die Familie ist mir sehr wichtig. Es ist gut, dass man nicht weiss, was kommt, sonst würde man nur noch daran denken. Und den Humor darf man nicht verlieren, er ist die beste Medizin.
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